Hillesheim, Wissen und Kleve, nach Holland, zu meiner Mutter, auf mein Schiff in Italien und segeln, wohin der Wind und die Sehnsucht mich tragen; nach St. Petersburg, nach Vancouver, Brasilien und Afrika – nicht zwingend in dieser Reihenfolge: Ich habe ungefähr nach Entfernung geordnet. Ich könnte nach Sehnsucht ordnen, aber die wechselt ständig.
Warum ich dir das erzähle? Weil geteiltes Leid halbes Leid ist und Angela von Unterwegsmitkind bei ihrer Blogparade danach fragt. Was gut war, denn die Antwort hat mir neue Erkenntnisse beschert.
Als nächstes fragst du dich vielleicht, wieso Hillesheim, Wissen und Kleve? Nun, die Orte interessieren mich wenig, auch wenn sie alle sehr schön gelegen sind. Die Fahrt nach Hillesheim genieße ich immer besonders, denn die Landschaft bis dahin ist einfach schön. Was mich jedoch in alle drei Orte zieht, sind meine Freundinnen. Mir fehlt einfach der Austausch mit ihnen, viele Stunden des Quatschens und Diskutierens, der geistigen und kreativen Anregung. Glücklicherweise gibt es Hoffnung: Mit den Schnelltests und wärmeren Temperaturen kann ich schon ein Treffen planen. Wirklich bedenklich: Ich bin schon so an diesen Lockdownzustand gewöhnt, dass ich eine Blogparade brauche, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen!
Mehr als alles andere jedoch, fehlt mir meine Mutter. Sie ist 94 Jahre alt und lebt in Österreich. Ich weiß nicht, ob ich sie noch einmal sehe. Natürlich verbietet mir niemand, sie zu besuchen. Es ist nur kompliziert: Test hier, Quarantäne, Test dort, Aufenthalt, Test dort, Quarantäne hier, noch ein Test – um sie drei Tage zu sehen, müsste ich ungefähr 20 Tage in Quarantäne! Klar, auch das ist machbar – wir fallen dann aber als Betreuung für unsere Enkelkinder für fast einen Monat aus. Gut, auch da gibt es hoffentlich bald eine praktikable Möglichkeit.* Ich würde ja auch so gerne Street Art in Wien erkunden, durch die Weinberge wandern, zum Heurigen gehen, unaussprechliche Brötchen und im Riesenrad zu Abend essen, meine Freunde und natürlich meine Herkunftsfamilie treffen und umarmen. Na gut, das wird alles warten müssen…
Es sind auch die Menschen, die mich nach Vancouver, Brasilien und nach St. Petersburg ziehen. In Vancouver war ich zuletzt vor knapp 20 Jahren. Ähnlich wie Rotterdam punktet diese Stadt nicht mit historischer Schönheit, dafür mit moderner Architektur, Lage, Natur und Landschaft. Der wahre Grund meiner Reise wäre aber ein Besuch bei meiner Nichte, die dort lebt: Downtown, um die Ecke einer modernen Einkaufsstraße, 10 Minuten zu Fuß entfernt vom Stanley Park und damit von wilder Natur, Sporthafen zu Füßen und Gebirge gegenüber. Das Gebiet zwischen Vancouver Island und dem Festland ist einfach traumhaft schön. Dort mit einem Boot herumschippern…. Das wäre was!
Brasilien – que saudade! Unser Schiff und diese Seite verdanken ihren Namen der brasilianischen Meeresgöttin Yemanjá. Die Stadt Salvador ist so etwas wie Heimat für uns, haben wir dort doch 18 Monate gelebt und später nochmals zwei Jahre mit unserem Schiff dort verbracht. Ich vermisse das Salz in der Luft, den Klang der Sprache und der Trommeln, ein kühles Bier am Strand mit einer Portion Moqueca de Camarão, Acrajé oder Lambretas, tolle Murals, die brasilianische Lebensfreude und – unsere Freunde. Wie gerne würde ich sie wiedersehen! An sie zu denken, sie zu vermissen, das tut jetzt richtig weh! Dagegen hilft leider nichts!
Wir haben auch in St. Petersburg gelebt, fünf Jahre lang. Eine bleibende Erinnerung sind die Petersburger Hochzeiten: Das Brautpaar fährt mit den Trauzeugen und eher wenigen anderen Gästen in einer langen Limousine von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit und macht dort Fotos. Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, dass wir eines Tages mit unseren Kindern unseren Hochzeitstag so feiern. Dieses Jahr wäre es der vierzigste, das wäre doch der Anlass gewesen. Ist halt nicht. Wird auch nie sein, glaube ich, die Familie wird zu groß. Aber ich würde gerne sehen, wie sich die Stadt in den vergangenen 12 Jahren entwickelt hat, wie Neu-Holland heute aussieht, wo genau der Turm von Gazprom steht, ob es unser Lieblingsrestaurant noch gibt, was alles renoviert wurde und was weiter verfallen ist. All das würde ich gerne in Begleitung meiner Freunde tun. Denn auch nach St. Petersburg ziehen mich in Wahrheit die Menschen, die mir dort ans Herz gewachsen sind: meine Russischlehrerin Sveta, die Reiseführerin und Freundin Julia, Nina und Lena von der Quiltgruppe Radova.
Lange zog mich nichts nach Afrika. Als unsere Tochter mir vor drei Jahren ihre Fotos von den Gorillas und den Giraffen zeigte, änderte sich das schlagartig: Diese Tiere wollte ich erleben, in freier Wildbahn. Was soll sich sagen? Es war – atemberaubend! Nicht nur die Giraffen und Zebras, auch die Landschaft, die afrikanische Sonne berühren etwas tief in mir. Diesmal würde ich nach Kenia wollen, zuerst zumindest. Und dann nochmals nach Uganda. Warum? Natürlich wegen der Menschen! Genauer wegen den beiden jungen Männern, die wir beim Studium und bei der der caritativen Arbeit unterstützen.
Im Moment wäre ich ja schon froh, wenn wir nach Holland könnten! Tulpenfelder, Gartencenter, nette Märkte, hübsche Städtchen zum Bummeln, Brokkelkaas, irgendwo ein Wieckse Witte, Spazieren am Meer, diese hübschen, heimeligen und liebevoll dekorierten Gassen – es ist immer ein kleiner Urlaub, mal einen Samstag lang über die Grenze zu huschen. Ist ja nicht weit von uns, quasi um die Ecke – und doch gerade so fern! Mir wäre es auch egal wohin: Roermond, Maastricht, S‘Hertogenbosch, Rotterdam, Leerdam, Hoorn, Eindhoven – Egal, Niederlande, du fehlst mir!
Unsere Yemanjá, unser Schiff liegt in Genua, wo wir mittlerweile auch Freunde haben, die wir vermissen. Doch da steckt noch mehr dahinter:
Ich genieße hier jede Minute mit meinen Enkelkindern. Vor Allem die drei jüngsten sind in den letzten Wochen sehr mit uns vertraut geworden. Wenn sie mir in die Arme laufen, gibt es kein Fernweh. Ich freue mich jeden Morgen über den Gesang der Vögel, begrüße jede neue Blüte im Garten (und es sind viele), erkundige schon mal die nähere Umgebung, Nähen macht mir viel Freude. Mein Leben ist trotz Einschränkungen erfüllt und erfüllend. Gleichzeitig gibt es kaum Anregung, kaum die Möglichkeit etwas Neues zu lernen, meinen Horizont durch Erfahrung zu erweitern, die Synapsen im Gehirn neu zu verdrahten, sie zu trainieren, indem ich mich in fremden Sprachen und Gegenden orientiere. Mir fehlt die Freiheit, zu gehen, wann und wohin der Wind mich weht. Abschied nehmen, fortsegeln, ankommen, neu orientieren, kennenlernen, dazwischen tief durchatmen und die Seele baumeln lassen… Das ist ein Gefühl, das ich brauche, genauso, wie ich meine Familie brauche. Zwei Leben in einem Leben, das ist mein Ding!
Nach Korsika wollten wir, nach Sardinien und Sizilien und irgendwann rüber nach Griechenland. Dort Freunde treffen. Dann die Adria hinauf, nach Korfu, Montenegro, Albanien und Kroatien, rüber nach Venedig. Es wird. Eines Tages.
Bis dahin lebe ich mein bodenständiges Gärtnerin-, Oma-, Quilterin- und neuerdings Malerin-Dasein. So reisen wenigstens die Synapsen in meinem Gehirn aufeinander zu. Die bauen dann quasi neue Wege. Und damit bin ich glücklich. Und damit, dass wir schon so viel gesehen und erlebt haben. Das ist ein Schatz in meinem Herzen, den ich immer wieder voller Freude hebe, betrachte und wieder verwahre. Und ich bin unendlich dankbar, dass es uns und unseren Töchtern gut geht, wir alle gesund sind und unsere Lebensumstände so sind, dass sich ein Lockdown gut aushalten lässt.
*Wozu doch so eine Blogparade gut ist! Nachdem ich das geschrieben habe, habe ich die Info nochmals überprüft: Zumindest bei der Rückkehr nach NRW müssten wir derzeit wohl nicht in Quarantäne.
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