Wir kämpfen uns Meter für Meter gegen Osten vor. Viel zu oft zeigt die Kompassnadel auf 357, ja auf 345 Grad, dabei ist unser Ziel auf 58 Grad. Wenn wir Glück haben segeln, wir für wenige Sekunden Richtung zwei oder vier Grad, oder gar auf 11 Grad, aber das ist es auch schon. Mit Kreuzen arbeiten wir uns in der Stunde etwa 0,3 Seemeilen, 500 m weiter nach Osten.
Und für alle Nicht-Segler: Schaut auf eine Uhr mit Ziffernblatt. Unser Schiff ist in der Mitte, unser Ziel liegt in Richtung zwei Uhr, Wind und Strömung drücken uns aber Richtung elf Uhr, mit viel Glück schaffen wir zwei Minuten nach zwölf…
Wie sollen wir so die Tyrell Bay auf Carriacou erreichen? Oder wann?
Wir sind seit 12 Stunden unterwegs, wieder mit Gästen. Diesmal sind mein Bruder und meine Schwägerin an Bord und natürlich wollen wir gemeinsam die Karibik oder wenigstens Grenada, Carriacou und Petit Martinique erkunden. Als wir am Samstag in St. George den Wetterbericht aus dem Internet abrufen, ist die Welt noch in Ordnung: Der östliche Wind soll zwar am Sonntag immer mehr auf Norden drehen, also genau aus der Richtung kommen, in die wir wollen, aber bei rund 15 – 18 Knoten müssten wir das hinbekommen.
Unseren ersten Stopp, die Dragon Bay hinter dem Underwater Sculpture Park erreichen wir auch ohne große Probleme. Nur der Himmel ist etwas bewölkt, sodass die Figuren beim Schnorcheln nicht ganz so gut sichtbar sind wie bei unserem letzten Besuch. Ich bedauere aber noch mehr, dass sich die vielen bunten Fischerln versteckt haben oder auch ohne Sonne nicht so gut sichtbar sind. So habe ich diesmal die Kamera mit, aber nicht viel zum Fotografieren. Aber so ist das eben.
Obwohl es in der Dragon Bay das letzte Mal extrem rollig war, übernachten wir wieder dort: Es scheint viel ruhiger zu sein. Leider ist das ein Irrtum, denn ab vier Uhr früh geht es wieder los. Da wir sowieso nicht mehr schlafen können, legen wir ab.
Anfangs ist es noch relativ ruhig, wir tuckern langsam nach Norden. Unser Motor kränkelt ja immer noch, mehr als 1300 Umdrehungen mag er nicht, zumindest nicht auf Dauer. Wir machen immerhin zwei bis drei Knoten Fahrt. Dann müssen wir weiter nach Osten, können auch die Segel hochziehen und hart am Wind Seemeilen gut machen. Wir rauschen mit 4 bis 6 Knoten dahin, bei 18 bis 25 Knoten Wind dahin. Sicher, wir müssen kreuzen, aber zwischen dem Unterwasservulkan Kick ‘em Jenny und Sauteurs kommen wir gut nach Osten, auch gut am Diamantfelsen vorbei.
Meine Schwägerin liegt da schon lange mit dem Speibsackerl, der Kotztüte, in der Hand flach. Meinem Bruder und uns machen die Wellen nichts aus, aber sie leidet.
Dann wird es mühselig. Für eine Weile können wir sogar noch fast genau Kurs fahren, dann wird er steiler und steiler, schließlich biegt er nach Westen ab. Tomy fährt eine Wende – und fast wieder zurück. Wieder eine Wende – nach einer Stunde sind wir 0,3 Seemeilen weiter im Osten, gute und ganze fünf müssen wir noch rüber.
Der Wind bläst uns mit mindestens 20 Knoten entgegen. Weder Tomy noch ich können uns erinnern, dass er so stark vorhergesagt war. Aber gut, da ist er jetzt. Tomy rollt die Fock ein, will mit dem Groß und dem Motor gegen an – es treibt uns nach Westen. Nur mit beiden Segeln haben wir eine Chance wenigstens ein paar Meter nach Osten zu kommen. Wir haben jetzt auch noch den nach Westen versetzenden Ebbstrom gegen uns. Verzweifelt versuchen wir in die Abdeckung durch Carriacou zu kommen, um wenigstens nicht weiter nach Westen zu fahren.
Insgeheim denken Tomy und ich wohl ohne Worte über unsere Alternativen nach: Die ganze Nacht vor Carriacou auf und ab kreuzen, in der Hoffnung, dass der Wind irgendwann schwach genug wird und wir dagegen mit Motor ankommen? Zurücksegeln? Beides wäre eine Qual für meine Schwägerin. Uns macht es Mut, dass wir nicht die einzigen Schiffe sind, die sich mühsam vorwärts kämpfen.
Ich runzle die Stirn. Über der Tyrell Bay liegt wieder ein Regentief, es kommt fast genau auf uns zu. Tomy zieht seine Regenjacke an. Plötzlich…
dreht der Wind in die entgegengesetzte Richtung!
„Tomy, die Fock raus! Jeder Meter, den wir gut machen hilft uns weiter!“
Der Wind frischt auf, 28 Knoten, 30 Knoten, 35 Knoten. Der Regen kommt fast horizontal. Tomy am Steuer kann kaum die Augen offen halten, so sehr prasselt er. Vor uns kocht die See, wir sehen nur wenige Meter weit. Über uns ist ein kleiner, feiner und rettender Sturm, ein Stürmchen eigentlich nur, ein Squall!
So schnell wie er kam, ist er vorbei, aber er hat uns in die Abdeckung der Insel geweht. Zumindest vor dem Strom sind wir jetzt sicher, der Wind bläst nicht mehr ganz so sehr von vorn. In vierzig Minuten sind wir 10mal näher an unser Ziel gekommen, als die letzten eineinhalb Stunden davor. Zwar dauert es immer noch zwei Stunden bis wir endlich in einem dicht besetzten Ankerfeld mit einem unbeleuchteten Wrack in der Mitte in dunkler Nacht unseren Anker fallen lassen. Acht Uhr abends ist es, vom Strand wummern die Bässe des Festes: Heute findet der Karneval auf Carriacou ohne uns statt, wir sind müde!