Ob ich einmal nach St. Petersburg segeln werde? Lust hätte ich schon, denn
Ich hatte eine Wohnung am Ufer der Newa…
Die Sonne tauchte mich im Sommer in meinem Bett bis kurz vor Mitternacht in ihr gold-rot-lila Licht, im Winter verzauberte sie meine Welt mit glitzernden Feenstaub.
Jeden Tag führte ich meinen kleinen Hund Tessa an ihren Ufern spazieren.
Komm, ich nehme dich mit, erst mit dem Schiff, dann zu Fuß…
Die Newa ist ein 72 km kurzer, aber wasserreicher schiffbarer Fluss, der bei Schlisselburg dem Ladogasee entspringt und bei St. Petersburg in die Baltische See mündet. Auf den Flüssen, die in den See entwässern, könnte man bis ins Schwarze Meer gelangen…
Eine beliebte Flusskreuzfahrt beginnt in Moskau und geht über den See bis nach St. Petersburg. Fahren wir ein Stück weit mit:
In der Festung Schlisselburg wurde einst Zar Iwan VI von Zarin Elisabeth I sein ganzes kurzes Leben festgehalten, eine komplizierte und grausame Sache. Nicht weit von hier führte die Straße des Lebens über den zugefrorenen See: Auf ihr wurden im zweiten Weltkrieg Lebensmittel in die von den Nazis belagerte Stadt transportiert. In ihrer Nähe fand die zum Durchbruch der Blockade St. Petersburgs führende Schlacht statt. In einem Diorama, einem riesigen Schaukasten, wird die Szene mit Modellfiguren und -landschaften vor einem halbkreisförmigen, bemalten Hintergrund dargestellt. Es ist ganz schön beindruckend!
Danach windet sich die Newa wie eine Schlange vorbei an kleinen Dörfern, Kirchen, alten Häuschen und hässlichen Industriegebäuden, bis sie die ersten Vororte von St. Petersburg und bald auch die Autobahnbrücke erreicht. Diese Brücke ist in den weißen Nächten die einzige, die sich nicht öffnet, weil sie hoch genug ist, und damit ist sie die einzige Verbindung zwischen den beiden Ufern.
Weiter geht es flussabwärts, vorbei am Alexander Newsky Kloster, auf dessen Friedhof einige berühmte Menschen die letzte Ruhe fanden. Nicht lange danach kommen die blauen Türme von Smolny in Sicht, von Elisabeth I als Kloster und Altersruhesitz erbaut. Später beherbergten die Klosterräume die erste Bildungsanstalt für Mädchen in Russland. Auch heute ist noch ein Lyzeum dort untergebracht, die Kirche dient als Ausstellungsraum.
Bald kommen wir an die Liteiny-Brücke, dort steigen wir am rechten Ufer aus dem Boot und gehen zu Fuß weiter – auch wenn dort in Wirklichkeit gar kein Anleger ist. Vor uns liegt die Aurora, von der aus angeblich der Startschuss für die Oktoberrevolution kam. In Wirklichkeit war diese zu dem Zeitpunkt schon längst im Gange.
Dahinter liegt Peters Häuschen: Der fast zwei Meter große Zar Peter I der Große wohnte während der Erbauung der Stadt und Trockenlegung der Sümpfe des Mündungsdeltas tatsächlich in diesem winzigen Haus. Heute ist darum herum ein größeres gebaut, so dass wir herumgehen und bei den Fenstern hineinspingsen können. Selbst dieses äußere Haus ist noch recht klein!
Ganz anders hingegen die Peter und Paul Festung! Sie ist benannt nach den Heiligen der kleinen Kirche, in der die Zaren ihre letzte Ruhe fanden. Umgeben ist sie von einer Festungsmauer, die sich auch in der kühlen Sonne des Nordens schnell erwärmt, sogar im Frühling, wenn noch Schnee liegt. Dann stehen die Petersburger in der Badehose an die Mauer gelehnt und sonnen sich.
Im Sommer stehen dort viele Schaulustige und beobachten die Spektakel auf dem Fluss: Schiffsparade, Motorbootrennen, Segelregatta – hier zwischen der Festung und dem Winterpalast ist der zentrale Veranstaltungsort auf der Newa.
Eine Brücke über die Kleine Newa führt zur Strelka, wo sich die Newa in die Kleine und die Große Newa teilt. Peter der Große wacht in der Gestalt des Neptun über die Stadt, sowohl an der Börse als auch an einer der Rostalsäulen. Viele Brautpaare lassen sich hier mit dem Winterpalast oder dem Springbrunnen im Fluss fotografieren. Sie fahren in großen Stretch-Limousinen von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, machen Fotos und trinken jede Menge Sekt. Der Müll bleibt liegen…
Die meisten Touristen würden jetzt über die Schlossbrücke zum Winterpalast gehen. Aber wir führen ja meinen kleinen Hund Gassi und so schlendern wir weiter an der Kunstkamera und dem Menschikoffpalast vorbei entlang der Großen Newa. Gegenüber fällt der Blick auf die Admiralität, die imposante Isaakskathedrale und ehemalige Paläste und Herrenhäuser.
Oh, vorher wirft sich noch ein Mann im Anzug vor Tessa auf die Knie und fragt, ob er sie küssen darf. Sie sieht nämlich aus wie eine glücksbringende Hundestatue in einem Hinterhof: Wer sie küsst, kommt zu Geld…
Glück bringt auch das Berühren einer der beiden Sphinxen am Kai vor der Universität – wie überhaupt fast jede Statue in St. Petersburg eine Stelle hat, an der die Berührung derselben Glück bringt. Die dreieinhalbtausend Jahre alten Sphinxen stammen tatsächlich aus Ägypten, rechtmäßig erworben übrigens, und sehen das alles gelassen.
Ein Stückchen hinter der letzten, der Blagoweschtschenski-Brücke. liegen ein paar alte russische Traditionsschiffe und ein U-Boot. Gegenüber machen die Kreuzfahrtschiffe und ausländische Traditionsschiffe fest. Wir gehen aber über die Brücke, an der im Sommer hunderte Spinnennetze hängen und die Mücken fangen, die zu Millionen mit dem Wind in die Stadt getrieben werden. Von hier aus kannst du in der Ferne die Hafenkräne an der Flussmündung sehen und die Baltische See erahnen.
An pastellfarbenen Fassaden vorbei führt unser Weg zum Admiralitätspark. Hier exerzieren Soldaten am Stadtgeburtstag, heben Heißluftballone ab und wir treffen dort auch wieder auf eine Hochzeitsgesellschaft. Und auf den ehernen Reiter, natürlich Peter der Große.
Zugegeben, der Hund möchte jetzt lieber durch den Park gehen, doch auch an der Newa entlang ist ein Grünstreifen. Im Sommer sind dort Bierbuden aufgebaut, es ist ein wunderbarer Platz um den Sonnenuntergang zu erwarten. Familien spazieren vorbei und Touristen aus aller Welt, die Newa-Walrosse gehen baden. Noch schöner aber ist es dort vielleicht an einem sonnigen Tag im Winter, wenn die Temperatur unter 25 Grad minus fällt und aus der Newa Dampf aufsteigt. Das sind die magischen Tage, an denen die Luftfeuchtigkeit gefriert und als golden glänzender Feenstaub auf dich rieselt…
Doch die meisten Menschen kommen in den weißen Nächten nach St. Petersburg. Während du im Rest der Stadt kaum etwas davon merkst – außer vielleicht am Newsky Prospekt, auf dem bis spät in die Nacht flaniert wird, herrscht hier unten an der Schlossbrücke Partystimmung: Feuerspucker, Tänzer, Musik und jede Menge erwartungsvolle Menschen treffen wir dort: Um etwa halb zwei Uhr nachts gehen die Brücken auf, die Containerschiffe die auf der Newa Waren vom Schwarzen Meer bis in die Baltische See bringen, haben nun freie Fahrt.
Aber halt, da will noch einer rüber! Auch wenn die Brücke schon ein wenig geöffnet ist, springen die letzten Wagemutigen über den Spalt.
Denn wer nicht rechtzeitig da ist, kann erst morgens früh heim!
Natürlich sperrt die Polizei die Brücke ab – für die Autos!
Wir gehen weiter, vorbei an der Eremitage, diesem weltberühmten und unbedingt sehenswerten Museum im Winterpalast. Es dauert eine Weile, bis du die ganze Pracht darin erfasst, aber dann wird dir der Mund vor Staunen nicht mehr zugehen!
Natürlich darf Tessa dort nicht hinein, es ist ja jetzt auch schon dunkel, also bleiben wir am Ufer: Stell dir vor, heute ist der Samstag nach dem 21. Juni: Heute feiert St. Petersburg das größte Schulabschlussfest des Landes, Alje Parussa – Purpursegel – nach einem Roman von Alexander Grin benannt. Das choreographierte Feuerwerk, das Spektakel, mit Lifemusik aus dem Marijinski Theater, Lasershow, Wasserballett, Schiffsprozession vor der Peter und Paul Festung sucht seinesgleichen und verdirbt dich für immer, was Feuerwerk angeht! Ich wette mit dir, du wirst nie mehr ein vergleichbares Spektakel life sehen!
Ich aber verabschiede mich jetzt von dir und schleiche mich hinauf in mein Apartment. Die Sonne, deren Weg ich hinter der Peter und Paulfestung verfolgen kann, wird bald aufgehen und mich an der Nase kitzeln. Du kannst noch weiter gehen, übers Marsfeld in den Sommergarten und dich dann in den kanalisierten Nebenflüssen des Mündungsdeltas der Newa verlieren: An der Fontanka und der Moika gibt es noch viel zu sehen! Vielleicht zeige ich es dir ein andermal!
INFO
Links zu anderen Blogs über St. Petersburg
st-petersburg-in-3-tagen
spbaufdeutsch.com
Danke, Sabine von Ferngeweht, mit der grandiosen Idee zur Stadt-Land-Fluss Blogparade hast du mich gleich dreifach inspiriert:
- Ich las davon vor einer unangenehmen Segelstrecke und spielte daraufhin in Gedanken dieses Spiel, einfach um mich selbst bei Wind und Welle bei Laune zu halten.
- Die vielen Beiträge feuerten mein Heim- und mein Fernweh an und erinnerten daran, wie schön die Welt doch ist!
- Vor Allem aber weckte ich mit meinem eigenen Beitrag viele Erinnerungen an ein außergewöhnliches Leben in einer herausfordernden Stadt. Oder war mein Leben dort herausfordernd und die Stadt außergewöhnlich?
Schnee von gestern, oder auch Humus, der mein Leben jetzt nährt!
Hier geht es zu den Beiträgen, die mein Fern-Heim-Weh triggern:
Donau von family4travel
Dänemark von genussbummler
Elbe von punktkommatext
Ganges von Traveling the world
Kroatien von Delightful spots
Lissabon von 1thingtodo
Olifants River von Zypresse unterwegs
Rumänien von Faszination Europa
Rhein von entdeckergreise
Xian von bambooblog
Yazd von in extenso
Zambezi von parkvogel
PS: Ich habe von 2004 bis 2009 in St. Peterburg gewohnt, von damals sind auch die Fotos und die Informationen. Es kann sein, dass sich das eine oder andere geändert hat, zum Beispiel weiß ich nicht, ob es den Brunnen noch gibt oder wie das mit der Brückenöffnung heute gehandhabt wird.
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