Ein vielleicht fünfjähriger Junge in Badehose und Flipflops geht mit seinen Eltern an der Bar vorbei, vor der wir sitzen. Eine Art weiße Duschhaube mit einem roten Federchen vorne drauf identifiziert ihn als Aladdin. In Salvadors Karneval verkleiden sich die Kinder.
Vor dem Wirt bleibt er stehen, offensichtlich kennen sie sich. Der Wirt wünscht sich ein Auto…
Am nächsten Tag ist das Kind als Superman verkleidet.
Wir sitzen in einer kleinen Gasse in Ribeira, dort, wo die Einheimischen ihr Bier trinken. Straßenhunde suchen ihr Futterglück. Ein Pärchen setzt wechselt sofort auf seinen Stammplatz unter dem Straßenschild „Rua Clovis de Almeida Maia“, als er frei wird.. Ein, zwei Bars weiter tanzt eine zwergwüchsige Frau, Bierdose in der Hand. Ihr Kittel ist alt, braun, mehr als ihn hat sie wohl kaum zum Anziehen. Doch vom Tanzen kann sie nichts abhalten.
Ein Vater sitzt auf einem Surfbrett, vielleicht ist es ja auch ein spezielles Stehpaddelbrett. Neben ihm schwimmt sein Sohn, hält sich immer wieder fest, wird von seinem Vater immer liebevoll korrigiert und ermuntert weiter zu schwimmen. Schwimmunterricht vor Itaparica.
Ein paar Tage später sind wir wieder in der Bar da Maria, hinter dem Restaurant Tijupa. Heute tanzt nicht die Zwergin, heute probt ein kleines Mädchen den richtigen Hüftschwung und den dramatischen Schlussakkord ihres zukünftigen Karnevalshits: In einer Hand hält sie ein imaginäres Mikrofon, die andere streckt sie theatralisch langsam von sich, der Kopf liegt im Nacken, die Augen geschlossen. Ist sie fünf? Oder sechs? Wie in jedem (kleinen) Mädchen steckt ein Superstar in ihr.
Ein Dosensammler hält den Bus an. Dieser stoppt mit den Hinterreifen genau vor dem Mann. Er wirft seine beiden großen, gefüllten Mülltüten unter dem Bus, vor die Räder. Der Bus rollt an, zerquetscht die Dosen – es ist wieder Platz in der Tüte für mehr.
In einer Seitengasse wäscht ein Mann sein Auto. Das Auto steht dicht am Haus auf dem Gehweg. Der Mann steht am Balkon oben drüber und spritzt mit dem Schlauch von oben das Auto ab.
Meine Freundin möchte die Hunde ausführen, ein kurze, schattige Runde, denn es ist schon sehr warm. Einkaufen will sie auch. Für beides nimmt sie erstmal das Auto.
„Ah, da ist mein Gemüsemann!“
Sie parkt unter einem großen Baum und inspiziert die Waren, die Benedito auf seinem Fahrrad anpreist: Alface Americano – Eissalat, Rucola, normaler Salat, getrocknete Garnelen und eine beachtliche Menge an Gewürzen führt er auf der kleinen Fläche mit.
Es sind Momente wie diese, die ich immer wieder beobachte, die mein Herz weit für die Menschen in Salvador und Umgebung öffnen. Ihr Lachen, ihr Strahlen, ihr Kampf ums tägliche Brot, die vertrauensvolle Hilfe, die Unkompliziertheit des Lebens und Leben lassen. Die Lebensfreude.
Oh ja, ich sehe den Müll auf den Straßen, die Junkies, jene, die kaum wissen, wie sie ihre Kinder satt kriegen sollen. Ich sehe die Gleichgültigkeit, das Abwenden vom Bedürftigen, die Behinderten, die Kluft zwischen arm und reich. Ich nehme Sexismus und Rassismus wahr. Ich lese von der Korruption, der Ungerechtigkeit, der Hilflosigkeit der Massen. Das Leben in Salvador ist nur für wenige einfach. Und selbst für die Superreichen ist es in vielen Bereichen nicht so leicht und unbeschwert wie es für den Durchschnittsbürger in Deutschland ist.
Aber die Menschen hier berühren mich mit ihren Schwächen und Unzulänglichkeiten; mit der Kreativität und Grandiosität mit der sie beides meistern.
Es sind die Menschen, denen wir unterwegs begegnen, die süchtig nach mehr machen. Dabei frage ich mich natürlich: Wieso gelingt es mir zu Hause nicht, so offen auf Menschen zu reagieren? Sicher, in Deutschland wird nicht ganz so viel öffentlich gelächelt, gesungen und getanzt. Doch die Schranke ist in mir:
Zu Hause kann ich die Menschen einordnen, auf Grund von Sprache oder Aussehen in Schubladen stecken: Tourist, Türke, Snob, Obdachloser, Assozialer, Neonazi, Quatschtante, Oma, genervte Mutter, Tussi … seltsam, positive Bilder sind selten dabei.
Dabei sind die Menschen zu Hause genauso großartig!
Doch etwas ist anders:
Fürchte ich mich davor, in eine Schublade gesteckt, bewertet und für nicht gut genug befunden zu werden? Komisch, dabei dachte ich, ich hätte das längst hinter mir gelassen! Die Kultur der Abgrenzung in Deutschland trifft daheim auf ihr Gegenstück, wie ein Schlüssel ins Schloss.
Und so baue ich eine Art virtuellen Zaun um mein Herz.
Verrückt! Ob es mir gelingen wird, das zu ändern?
Wird es dir unterwegs gelingen? Erzähle mir von deinen Erfahrungen!