Ich liege an Deck und schaue auf die Palmen und das Grün auf den Ilhas dos Tatus und Tubarões im Rio Maraú. Diese Inseln und den Ort dahinter wollten wir heute Mittag erkunden, doch die Ebbe vereitelte unser Vorhaben: Nicht nur, dass wir mit dem Dinghi kaum über die Sandbänke kamen, nein, beim Aussteigen versank ich bis zur Mitte meines Unterschenkels im schwarzen Schlick. Die Einheimischen warten bis die Flut kommt, dann fahren sie mit ihren Bötchen und der ganzen Familie samt Hunden an die Strände um zu baden.
Einen Sandstrand fanden wir dann aber doch noch. Und Dendêpalmen voller Bromelien.
Jetzt spendet mir ein vergilbtes Tuch aus jenem Möbelhaus, das die kühlere Welt mit billigen Möbeln und allerlei Schnickschnack versorgt, Schatten. So vor der Hitze der Sonne geschützt, nehme ich die Kronen der Dendê- und Kokospalmen, das Grün des Buschwerks und der Bäume in mich auf, das Grün einer tropischen Bewaldung in seinen unendlichen Schattierungen. So wie die Eskimos viele Wörter für Weiß haben, so sollen die Bewohner des Regenwaldes viele verschiedene Grüntöne unterscheiden können: Da sind die grauen Grüns des frühen Morgens, die grellen, fast blendenden des Mittags, auch die durchscheinenden im Gegenlicht, alle werden sie am Nachmittag erst golden, dann rötlich und schließlich mit der einbrechenden Dunkelheit schwarz und ununterscheidbar.
Ich weiß, dies ist einer jener ewigen Momente, die ich aufbewahre, dort, wo sich mein Herz mit meinem Geist in Dankbarkeit trifft. Wie die Perlen eines Rosenkranzes reihe ich diese Momente aneinander, bereit, sie mir jederzeit voller Freude in Erinnerung zu rufen. Eigentlich rufen sie einander, diese Perlen. So wie der tiefblaue Tropenhimmel über mir jetzt den Mittagshimmel an einem sonnigen Wintertag im eiseskalten St. Petersburg ruft: Wie Feenstaub glitzert die gefrorene Feuchtigkeit dort in der Luft, eine Feuchtigkeit, die auch hier ist, doch niemals magisch glänzen wird. Die Magie dieses Landes ist eine andere: der Ruf des Bem-te-vi, das Kreisen der Geier, die zirpenden Grillen und die Menschen, deren Kunst, froh unter schwierigen Umständen zu leben mich immer wieder fasziniert.
Gestern erkundeten wir die kleine Siedlung namens Saphinho auf der Insel Campinho: In der Häuserzeile am Meer überwiegen Gastgärten, die sich hochtrabend Restaurant nennen, jeder mit einer beeindruckenden Anzahl von Tischen. Sollten diese an den Sommerwochenenden voll sein, dann muss dieser Ort einem Bienenstock gleichen. Bienen, die mit den Ausflugsbooten kommen, wie Heuschrecken über das Dorf herfallen, ein etwas Honig – Geld – dalassen und dennoch einiges zerstören. Tourismus bringt Nahrung und schneidet doch ins eigene Fleisch.
Heute sind wir jedoch die einzigen zweischneidigen Schwerter, die den Sandweg durch das Dorf entlangschlendern.
Seltsam wie die Natur manchmal spielt. In Saphinho leben gleich fünf Albinos, vier Brüder und eine Schwester. Die Eltern sind portugiesischfarben, doch kommen in beiden Familien Albinos vor. So wie in ihrer Kindheit, so müssen sie auch heute noch alles, was sie nicht selbst produzieren können in Camamu mit dem Boot holen. Durch das saubere, gepflegte Dorf führt zwar ein Sandweg, der sich jedoch im Nirgendwo verläuft. Weder eine Straße noch eine Piste führen hierher, Autos gibt es nicht.
Damals ruderte die hellhäutige Familie die 10 Seemeilen quer durch die Bucht, sieben Mann in einem kleinen Einbaum. Heute geht das mit einem kleinen Tuckerboot. Seit vielleicht knapp 20 Jahren gibt es Strom und fließend Wasser. Einem der jungen Männer, Joao, gehört heute die Strandbar, ein wenig hochtrabend Moquecaria genannt. Er kann sich sogar einen Koch leisten. Und eine Satellitenschüssel mit Flachbildfernseher. Internet hat die Bar auch. Das Passwort dazu kennen die Erwachsenen nicht, das müssen sie bei den Kindern erfragen. Die übrigens schwarz sind.
Während wir in dieser Strandbar gegenüber unseres Schiffes sitzen und köstliche Kibe essen, belädt der Wirt – so weiß wie es eigentlich außer einem Albino nur ein Engländer sein kann – einen Kahn mit leeren Bierkästen und Gasflaschen. Kurze Zeit später fährt er los, quer durch die Bucht hinüber nach Camamu, um neue Ware zu holen. Die Fähre kommt, Frauen, beladen mit Bananen und Tüten voller Obst und Gemüse steigen aus. Später, bei Flut, springen die größeren Kinder des Dorfes vom hölzernen Anleger, während die kleineren sich an der Treppe, die jetzt ins Meer führt, tummeln. Die Mütter sitzen daneben, die haben Zeit. Obwohl der Tag durchaus bei Sonnenaufgang noch vor sechs Uhr morgens mit dem Einholen der Reusen oder dem Besteigen der Fähre beginnt: Unter Stress leidet hier vermutlich keiner.
Die Kinder wachsen in einer Umgebung auf, von der die Aussteiger in der entsprechenden Facebookgruppe wohl träumen. Und ich denke, wie paradox das ist: Vermutlich wird keines der Mädchen hier jemals einen internationalen Konzern leiten, keiner der Jungs wird Arzt werden – und doch träumen sie vielleicht von jenem Leben, dem andere entfliehen wollen.
Dem Menschen, so sagt der Gehirnforscher Gerald Hüther, sind zwei Bestrebungen von der Zeugung an mitgeben: Verbundenheit und Wachstum. So streben wir danach, verbunden über uns selbst hinauszuwachsen: Kann es sein, dass die Menschen, die alles haben, über sich hinauswachsen, indem sie ihre Bedürfnisse und Habseligkeiten reduzieren und ein einfaches Leben führen, während die, die wenig haben, wachsen, indem sie nach mehr streben? Die Kinder der Aussteiger könnten so wie die Kinder von Saphinho von Reichtum, Forschung, Autos, Reisen, Hollywood* und Karriere träumen.
Ach ja, nachdem ich die Perlen meines glücklichen Rosenkranzes innerlich ertastet habe, werde ich wieder nachdenklich! Kann ein Mensch reicher sein, als auf einem Schiff vor einer tropischen Insel, in Dankbarkeit ruhend, mit Zeit und genügend Geld für Reparaturen, das Abendessen und Flüge in die Verbundenheit der Familie? Es kann auch gerne eine Tiefschneepiste sein, nicht für mich, aber mein Bruder würde sie vorziehen…
*Von einer Karriere als Fußballer träumen gerade wenige: Zu tief ist die Fußballnationalmannschaft Brasiliens gesunken…
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