Krebse! Millionen Krebse!
Nur unter großem Gezetere zieht Tomy mir zu Liebe das Dinghi auf die Sandbank neben dem Mangrovensumpf. Ich habe meine Flip Flops längst ausgezogen, sie saugten sich im Schlamm fest, doch barfuß ist ein wunderbares Gefühl: Der feine Schlamm fühlt sich seifig-cremig wie Ghassoul an, jene marokkanische Pflege, mit der ich mich gerne wasche. Die Krebse stören mich nicht, obwohl sie sich spinnenartig bewegen, sie fliehen bei der kleinsten Erschütterung und verkriechen sich tief im Schlamm.
Tomy bleibt im Dinghi sitzen, während ich die Sandbank erkunde: in der Ferne laufen Kinder, in der anderen Richtung stapfen weiße, Reiher-artige Vögel im Schlamm. Über uns kreisen die schwarzen Geier und die Bem-te-vis begrüßen mich mit ihren meisenartigen Ruf. „Zizibe, Zizibe!“ rief mein Onkel Franz im Frühjahr die Meisen, jener, der sich um die neugeborenen Kätzchen kümmerte, und dem man nachsagte, dass er mit den Tieren reden konnte. Mag ich deshalb den Ruf des Bem-te-vi so gerne? Weil er mich in die Zauberwelt meiner Kindheit entführt?
Tomy sitzt immer noch im Dinghi, als ich wiederkomme, wenigstens ist er nicht mehr mürrisch.
Später treffen wir uns mit Tom, Anja und Thomas am Dorfplatz auf ein Bier. Oder zwei. Oder…
Auf den Stromdrähten balancieren die Macacos, die kleinen Affen. Ein Junge wirft Knallkörper, doch nur wir erschrecken und sind von dem Krach genervt. Die Dorfpolizisten führen einen Schwerverbrecher in Handschellen ab, begleiten ihn schwerbewaffnet zur Fähre. Die Beweismittel, bunte Vögel im Käfig, tragen sie nebenher.
Wir drehen noch eine Runde durch den Ort, fotografieren die Marterln, die an jeder Ecke stehen. Autos gibt es hier keine, nur Mopeds, Fahrräder und kleine Baufahrzeuge. Der gesamte Ort wird neu gepflastert, das Ufer, soweit öffentlich, neu angelegt. Saveiros und Lastenkähne bringen die Pflastersteine, gerade so viele, wie an einem Tag verarbeitet werden können. Vieles ist einfach hier, und doch blüht das Leben. Die Menschen helfen einander, Nixon von der Bierbude, passt nicht nur auf unsere Dinghis auf, er hilft auch beim Entladen der Dachziegel. Alles wird per Boot gebracht: Getränke, Spülbecken, Waschmaschinen…
Nixons überdachte Bierkühltruhe ist ein großartiger Aussichtspunkt!
Anja, Thomas und Tom haben gut gegessen, obwohl keines der Restaurants im Ort offen hatte: Die Dame im Supermarkt hatte sie durch den halben Ort geschleppt und an jeder Tür gefragt, ob sie genug für die Drei hätten. Eine Familie hatte Huhn, Reis, Bohnen, Salat und Cola für 40 Real. Ich frage später in einer Bar nach Essen, doch nein, hier gibt es nur Flüssignahrung. In der Ecke wird zwar gegrillt, doch das sei privat.
Kurze Zeit später steht Privat lächelnd mit einem fliegenumschwärmten Teller voller Farofa, jener staubigen Beilage, die die Baianos so lieben, und einem gegrillten Fisch vor uns.
Wieder sind wir von diesen freundlichen, vom Tourismus noch völlig unverdorbenen Menschen eingeladen. Ja, es ist das zweite Paradies.
Die Hölle, das Feuer der Raffinerie, liegt gleich dahinter. Auch zu Hause sehe ich in der Ferne manchmal die Flamme, mit der Gase bei Bayer Leverkusen abgefackelt werden. Mehr als ein Schein hinter dem Berg ist es auch hier nicht. Und doch pulsierte es brüllend in der ersten Nacht, schwellte an und ab, ja, die Druckwelle war fast körperlich spürbar, zumindest dachten wir das. Vielleicht kommt das rhythmische Brüllern und Gewittern auch vom Laden der Schiffe, doch wir bringen es unwillkürlich mit dem Feuer zusammen. So muss es sich am Rande jenes Höllenschlundes anfühlen, in dem Frodo den Ring werfen muss…
Beides, Geräusch und Gefühl, sprechen eine Urangst an, gegen die es sich schwer wehren lässt. Wie schaffen es die Menschen hier, trotz dieses Stresses, so freundlich zu sein? Gleicht die Natur das aus?
Wir lassen uns auf zwei weitere Nächte ein, und siehe da, diesmal ist die Hölle leise…