Ich kann sie nicht alle retten, ich weiß. Kinder nicht und Straßenköter auch nicht. Ich kann nicht alle Kinder dieser Welt füttern und trösten, und auch nicht alle Hunde. Nur diese eine.
Sie hat Augen, dunkel wie Kaffee und tief wie das Universum. Sanft sieht sie mich damit an, nachdem sie ihre Pfoten ebenso sanft auf meinem Schoß legte, immer ohne einen Laut. In ihrem Blick liegt die Unendlichkeit. Sie bettelt nicht. Und doch liegt in ihrem Blick die Bitte nach einer liebevollen Geste, nach Nahrung und Geborgenheit. Wenn ich sie streichle, schmiegt sie ihren Kopf dankbar in meine Hand. Sie ist vollkommen präsent.
Diese Hündin hat es mir angetan. Sie berührt mein Herz, nicht mein Leid.
Zum ersten Mal legte sie ihren Kopf auf meinen Schoß als wir in Itaparica vor ein paar Wochen ankamen. Sie lief zu allen Gästen des Steak-Restaurants, kaum einer konnte sich ihren Zauber entziehen. Dünn war sie, schwer hingen die Zitzen von ihrem Bauch. Irgendwo mussten ihre Jungen sein.
Eine Woche später, als wir wieder kamen, fanden wir abends die vier Welpen auf einem alten Hemd am Wegesrand unter einem Baum. Jemand schien sich zu kümmern. Ich war getröstet. Am nächsten Tag waren sie weg, die Mutter immer noch da, sanft, stumm und präsent. Ich war überzeugt, dass jemand sich um die Kleinen auf eine ganz bestimmte Weise gekümmert hatte, so wie es Onkel Franz in meiner Kindheit mit den neugeborenen Katzen gemacht hatte. Schon damals habe ich das als vollkommen natürlich empfunden: Wo hätten die Katzen denn hinsollen? Und Straßenhunde gibt es schließlich genug hier, durchaus wohlgenährte übrigens.
Wieder eine Woche später, wir waren Pizza essen, kam sie vorbei um auf ihre sanfte Art um ihren Anteil am Leben zu bitten. Der Kellner jagte sie fort, doch sie kam wieder. Ich trug sie von der Terrasse, doch wer lässt sich schon fernhalten, wenn sie Hunger hat? Irgendwann gab sie auf, ich wollte nicht drüber nachdenken, was der Kellner vielleicht mit ihr gemacht hatte.
Gestern, als wir allein unseren Caipirinha tranken, kam sie wieder, nur mehr aus Haut und Knochen bestehend. Wenn ich sie streichle, spüre ich nur Knochen. Doch ihr Gesicht, ihre Augen, ihre Präsenz sind unverändert.
Da höre ich ein Quieken aus der Ecke hinter den Geldautomaten! Hinter einem Brett ist ein kleiner Raum, in dem sich drei Welpen tummeln! Einer fehlt, vielleicht sehen wir ihn nur nicht! Ich mache das Brett weg, sofort stürzen sich die drei auf die ebenso ausgehungerte Mutter…
Kann frau einem Hund etwas versprechen? Eine Mutter einer anderen Mutter, über alle Grenzen der Natur hinweg?
Ich tue es: Ich verspreche am nächsten Tag mit einem Sack Futter wiederzukommen.
Laura, unsere Tochter, die sich schon um Tessa, unseren Hund mit ebenso lieben Blick kümmert, beschwört mich, ja keinen weiteren Hund mitzubringen. So gerne ich dieser Hündin ein liebevolles menschliches Rudel verschaffen würde, so sehr weiß ich, dass wir es nicht sind. Ein Hund an Bord, für uns klappt das nicht, auch wenn viele Segler einen haben.
Aber wenn sie diese eine Nacht keinen Hunger hat und genug Milch und Kraft um ihre Jungen zu säugen, dann ist ein Stück Himmel auf die Erde gefallen. Wir waren nur sein Werkzeug.
Nachtrag: Abends finden wir sie zwischen den Geldautomaten, sie säugt nur mehr zwei Welpen. Ein Brasilianer kommt mit seinem Hund, behauptet, dieser wäre der Vater und er hätte gerne den kleinen Braunen. Spricht‘s, schnappt sich den Hund und geht. Ich starre ihm fassungslos nach: Der Kleine bräuchte noch mindestens vier Wochen die Milch der Mutter, abgesehen von der Sozialisation. Aber dafür fehlt den Menschen hier das Verständnis, und wer bin ich zu richten? Vielleicht ist das die einzige Chance, die dieses Hunderl auf einen immer gut gefüllten Bauch und etwas Liebe hat.
Klar ist mir auch, dass der letzte, der nun die meiste Zeit allein zwischen den Automaten tapst, bald von jemand durchaus mit einer liebevollen Absicht, mitgenommen wird. Und so ist es. Doch ich bemerke auch, dass diese Hündin wirklich viele Herzen rührt, wie viele sich um sie kümmern, ihr etwas zustecken und sie streicheln, wie viele Menschen uns freundlich und dankbar anlächeln. Ein bisschen in Sorge bin ich noch wegen ihrer vollen Zitzen: Gefüllte Brüste schmerzen! Doch die Milch quillt einfach über, sie schleckt sie auf. Jetzt bin ich zuversichtlich, dass es ihr bald wieder gut gehen wird. Nur eine Wurmkur werden wir ihr noch sicherheitshalber verpassen, obwohl kein anderer Hund damit Probleme zu haben scheint.
Nachtrag zwei, drei Tage später: Sie kommt uns schwanzwedelnd und freudig entgegen, ihre Rippen drücken sich nicht mehr durch – die Wurmkur erübrigt sich wohl. Und ja, so viele hier lieben sie, streicheln sie, kümmern sich…
Ach so, frau kann es ja nie allen recht machen: Kinder füttern wir auch!
April 2016: Die Hündin heißt Nega, wird von den Einwohnern Itapricas gefüttert und geliebt. Und sie ist sterilisiert (nicht kastriert)