Ich versuche, mich in die Lage jener Segler zu versetzen, die noch nie in Brasilien waren: Nach der Einsamkeit am Meer, tauchen die ersten Hochhäuser auf – Wolkenkratzer wäre zu viel gesagt, doch erst mal ist da eine Stadt!
„Ich dacht‘ schon, wir hätten uns verfahren und sind in Manhattan!“, meint Anja von der Robusta.
Also frau fährt da entlang der Hochhäuser, dazwischen eine alte Kirche aus kolonialer Zeit, darunter kleben die teils bunten, teils mit schwarzem Schimmel überzogenen Häuschen der Favelas am Hang.
Dann Festmachen in der Marina und schließlich Einklarieren.
Der Weg zur Policia Federal und Receita Federal führt den Neuankömmling unweigerlich durchs Comércio – und damit durch eine Welt der Gegensätze, geballtes, lebendiges, lautes Brasilien:
Entlang der Straße fallen die Busse, die in die anderen Stadteile führen, ein, als wären sie an einer Perlenschnur aufgereiht. Autos und Motorräder brausen daneben her, die Straße zu queren ist ein Spiel mit dem Leben, das frau nur mit viel Geduld überlebt: Früher oder später kommt eine Lücke! Und dennoch, soviel Gefahr wie hier in der ersten halben Stunde, ist frau auf See in 22 Tagen nicht ausgesetzt gewesen!
Der Straßenverkehr ist immer und überall das Gefährlichste!
Das Comércio ist quasi das Mainhattan der Stadt, hier haben alle Banken ihre Hauptquartiere, hier, gleich gegenüber dem Hafen, werden die Geschäfte getätigt. Schick gekleidete Frauen (in langen Hosen, Kleidern und mit geschlossenen Schuhen) und Männer (lange Hose, Hemd oder Poloshirt) streben in die Büros und Geschäfte. Auch jene in kurzen Hosen und Flipflops gehen ihren Geschäften nach, wenn auch unklar ist, wohin sie streben. In engen Gassen wird Obst angeboten, an jeder Ecke, an jeder möglichen Stelle wird etwas von kleinen Standeln oder aus Kühlboxen verkauft: Uhren, Fernbedienungen, Spielzeug, Kleidung, Zeitungen, Acarajé, Obst, Snacks, Zigaretten, Kokosnüsse und natürlich
„Aqua gelada! Aqua schelada! Gekühltes Wasser!“
Musik ist auch immer irgendwo. Und ja, die Menschen haben die Farbe von Milchkaffee: Manchmal ist kein Kaffee dabei, auch wenn die Sonne für Farbe sorgt, manchmal keine Milch, meistens jedoch eine Mischung, mal mehr davon, mal mehr davon.
Und dazwischen in all der Geschäftigkeit, die Junkies, abgemagert und mit Dreadlocks, und die Obdachlosen, die im Müll auf der Straße nach Essbaren suchen oder im Schatten pennen.
Sie sind die einzigen die nachts im Comércio bleiben, ansonsten ist es ausgestorben und kein Platz, um sihc aufzuhalten: Nachts hört frau in der Stille die Vögel zwitschern.
Wie die Menschen, so sind die Gebäude: Da ist das Hochmoderne, neue Terminal für die Kreuzfahrtschiffe, moderne Geschäfte neben unglaublichen Spelunken, bunte Kolonialbauten, halb verfallen und verschimmelt, die großen Banken, nein keine Paläste, aber immerhin eindrucksvoll, neben den reinsten Bruchbuden! Es ist unbeschreiblich!
Und der Gehweg? Wer seine Augen nicht auf den Weg hält, ist selbst schuld, denn es gibt keine ebene Stelle! Die Pflastersteine sind aufgerissen, liegen herum, der Asphalt ist aufgerissen – ich muss in Gedanken lachen: Wie oft schon haben sich meine Nachbarn zu Hause in Deutschland über einen leicht unebenen Gehweg bei der Stadt beschwert! Leute, in Deutschland sind die Feldwege in besseren Zustand als die Wege hier im Comércio!
Also, es muss jenen Seglern ergehen wie mir, als ich vor 15 Jahren zum ersten Mal hier war: Die Töchter in der Schule, Tomy im Büro und ich mich ums tägliche Leben kümmernd, jeden Tag der Stadt ausgesetzt, weder Menschen, noch Orte noch Situationen waren für mich einschätzbar. Es war, als würde sich mein Innerstes nach außen stülpen…
Kulturschock pur!
Wir kaufen Mangos und Maracuja an den Obständen, Kibe und Cafezinho an einem anderen und Bier in einem Laden, dem wir in Europa nicht mal nahe kommen würden. 20 Reals möchte die Frau an der Kasse, die nimmt den Geldschein, öffnet eine Schublade, wirft in hinein, keine Quittung, kein nichts. Das Geld verschwindet einfach in eine Schachtel…
Und das bei jedem Straßenverkäufer!
Im Telefonladen hingegen werden meine 50 Real (ca. 17 Euro) aufs Genaueste geprüft: Erst unter UV Licht, dann unter der Lupe und schließlich gegen das Licht gehalten.
Das ist Brasilien: Einerseits geht alles, andrerseits geht nichts!