Der Novemberhimmel über Istanbul ist blau – strahlend blau! Wie schön eine Stadt doch ist, wenn sich das Laub der Bäume in warmen rot-orange-braun und die Türme und Kuppeln der Gebäude vor einem kühlen blauen Himmel verneigen! Und da ist dann noch das Meer – Wasser fügt immer einen besonderen Charme hinzu!
Doch nein, wir haben nicht das Wunder vollbracht innerhalb weniger Tage nach Istanbul zu segeln – wir nahmen das Flugzeug. Sicher steht die Türkei auch auf unserer Törn-Wunschliste, doch erst in ferner Zukunft…
Das erste, das mir in Istanbul auffällt, sind die Ähnlichkeiten mit Salvador: Der Baustil, der Verkehr, die Hügel, die mit Waren überfüllten Geschäfte in der Altstadt, die Saft-, Brezel- und Nüsseverkäufer, die Elektro-Installationen, die vielen Menschen – und ein den Alltag durchziehender Glaube.
Gleichzeitig bin ich entsetzt: Bin ich schon so abgebrüht, so weitgereist, dass mir der Blick fürs Wunderbare, Kuriose, Fremde, Verwirrende, Andere, Eigene, Skurrile – für die bunte Vielfalt dieser Welt – fehlt und ich Eindrücke nur mehr in Schubladen sortiere? Ist mir das Staunen abhanden gekommen? Sicher, es ist eine nützliche Eigenschaft des Gehirns, dass es Ähnliches zusammen strukturiert, aber hindert es mich nicht daran, das Besondere dieser Stadt wahr zu nehmen?
Philipp, der Freund meiner Tochter, ist am Abend platt vom Gehupe und Gedränge und den plötzlichen Abgründen in den Gehwegen, den Treppen, die zu Geschäften im Keller führen. Wieder fällt mir auf, wie sehr vertraut mir das ist, wie sicher ich mich darin bewegen kann! Gerade diese Erkenntnis, diese Sicherheit, öffnet meine Augen und mein Herz:
Ich genieße den Ruf des Muezzins, der übers Meer und durch die Stadt schallt, mich beruhigt und tröstet er, er erfüllt seinen Zweck: Innehalten, mich daran erinnern, wer ich wirklich bin. Auch Glocken tun das. Sie läuten übrigens sehr wohl auch in Istanbul, zwar leise und verhalten vom Band, doch sie tun es!
Ich sehe mir die Frauen an: Mir fällt die in meinen Augen große Anzahl der Frauen mit Kopftuch unangenehm auf, Philipp ist erstaunt, dass es so wenige sind…
Jedenfalls sind es im Gassengewirr von Eminönü und rund um die Sehenswürdigkeiten deutlich mehr als auf der mondänen Istiklal Cadesi.
Immer wieder gelingt es mir, mit einer der Frauen ein Lächeln auszutauschen, Augenkontakt herzustellen, eine Art schwesterliches Verstehen unter Frauen, die sich ihrer Selbst, ihrer Stellung und ihres Mannes sicher sind. Dieses Vertrauen zwischen Frauen finden wir auch im Westen in reinen Frauengruppen, doch es bedarf immer besonderer Umstände, bis wir uns sicher genug dafür fühlen. Es scheint mir in manchen muslimischen Ländern selbstverständlicher zu sein. Andrerseits sind die – wenigen – ganz verschleierten Frauen unnahbar hinter ihren schwarzen, weichen Wänden.
Gleichzeitig beobachte ich erstaunt meine Vorurteile…
Vorurteile? Ich doch nicht! Oh doch! Die Diskussion, Fehlinformationen, Vorurteile in Deutschland und Österreich haben Spuren hinterlassen, selbst wenn es in mir weniger sind als in anderen – hoffentlich.
Und so sehe ich wieder nicht was ist, sondern das, von dem ich glaube, das es zu sein hat. Und wenn es offensichtlich anders ist, wundere ich mich:
Da ist zum Beispiel die junge Frau im Hotel, mit Kopftuch, doch schick, die selbstbewusst auf Englisch auscheckt, während ihr Mann nichts verstehend daneben steht.
Da sind Väter die sich liebevollst um ihre Kinder kümmern, Kinderwagen schieben, und Frauen, mehr oder weniger verschleiert, gleichwertig und selbstverständlich, die ein- und verkaufen, im Restaurant bestellen, mit ihren Männern diskutieren…
Vor der Hagia Sophia winkt eine Frau meine blonden Zwillinge zu sich heran, sie möchte unbedingt mit ihnen aufs Foto, ihr Sohn doch bitte auch, ja und ich, die Mutter auch – ihr Mann steht glücklich lächelnd daneben.
Die nächste Familie hält Abstand. Nicht zu uns, zueinander. Vereinzelt wie Statuen stehen sie Modell für ihr Familienfoto.
Und die Kinder?
Muslime bekommen doch viel mehr Kinder als Deutsche!
Das ist relativ: Die Muslimas in Deutschland und die türkischen Frauen bekommen knapp unter zwei Kinder pro Frau. Kinder sind also auch in Istanbul rar. Nur die bettelnden Roma-Frauen sind von Kinderscharen umgeben!
Die Kinder sorgen auch für den skurrilsten Moment der Reise: Auf der Suche nach einem Restaurant, das uns empfohlen wurde, und das wir nicht fanden, kommen wir am 11.11. abends am Lyzeum vorbei. Hinter den Mauern singen die Kinder: “Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne…”
So kehrte nach und nach meine Fähigkeit zu Staunen, zum Wundern und Genießen zurück. Die Menschen sind alle verschieden und doch gleich in ihren Sorgen, Nöten und Freuden, die Welt ist bunt und traumhaft schön, Istanbul einfach eine Reise wert!
Was genau? Das steht hier!
Am Ende bleiben Fragen, zu beantworten beim nächsten Besuch:
Wer kauft um Mitternacht noch Koffer? Oder Bilder? Kann doch keiner die Farben erkennen!
Wann werden die Istanbuler aufhören, die Tauben zu füttern?
Und vor Allem: Was ist in den Säcken?